
Das leidende Tier
“Und gerade, als er mit dem Fahrgast und dem Hund losgefahren sei, habe das Tier mit ohrenbetäubender Lautstärke angefangen zu jaulen.”
27.2.2022
1
„Nein, tut mir leid, das kann ich nicht mitnehmen“, sagte der Fahrer mit frustriertem Gesichtsausdruck. Er zeigte auf die Plastikbox, in der sich mein Kater befand. „Meine Tochter hat Allergie“, setzte er mit immer noch etwas gequälter Miene und leicht gebrochenem Deutsch hinzu. Bevor ich etwas erwidern konnte, fuhr der Mann mit einigen Schweißperlen auf der Stirn fort: „Außer, na gut, vielleicht hinten“, er eilte zum Kofferraum, öffnete ihn und wies mit etwas schroffer Geste in den kleinen Sonderbereich, den er meinem Kater zugedacht hatte. Während ich versuchte, eine Entscheidung zu treffen, war ich gleichzeitig damit beschäftigt, die seltsame Mischung aufzulösen, die aus Sympathie für den persisch anmutenden Vater und Verunsicherung darüber bestand, dass noch nie in meinem Leben ein Taxi-Fahrer abgelehnt hatte, mich mitzunehmen. Schließlich gewann meine Sorge um das Tier die Oberhand und ich lehnte das Kofferraum-Angebot dankend ab. Der Mann hob beide Hände zum Zeichen des Einverständnisses und der Unschuld in die Höhe und bat nachdrücklich, die Fahrt noch in der App zu stornieren. Ich versprach es ihm und trat wieder zurück auf den Gehsteig.
2
Mein Kater, oder besser der Kater, den meine Freundin und ich einige Wochen zuvor aufgenommen hatten, war am Auge verletzt. Zumindest schien es so. Die Spezialistin für Tieraugen hatte mir gerade für die Erstuntersuchung ein kleines Vermögen abgenommen. Jetzt stand ich mit dem Kater, der sein rechtes Auge stets zukniff und seit wir ihn bekommen hatten kaum öffnete, auf dem Gehsteig. Gegenüber befanden sich Kleingartenanlagen und ein Steinmetzbetrieb für Grabsteine. Der Kater gab ein leidiges Miauen von sich. Ich setzte ihn auf dem Pflaster ab und rief bei der Taxi-Zentrale an. Gegenüber der Dame am Telefon betonte ich drei Mal, dass ich einen Kater dabeihatte, um auch wirklich sicherzugehen, diesmal mitgenommen zu werden. Wieder miaute das Tier in der Box. Einige Radfahrer fuhren sehr nah an uns vorbei und der Verkehr auf der Hauptstraße vor uns bewegte sich im Rhythmus der Ampelphasen in gleichmäßigen Kolonnen nach Norden. Ich blickte in die Richtung, aus der der Verkehr kam und wartete auf das bestellte Taxi.
3
Als der Wagen vorfuhr, war ich für einen kurzen Moment irritiert. Der Mercedes schien mindestens 30 Jahre alt zu sein. Jedenfalls erinnerten mich die geraden und schnörkellösen Linien des Fahrzeugs an meine Kindheit und die Autos, die es damals gab. Der Fahrer drehte sich um, als ich die hintere Tür öffnete, und fragte mit bayerischem Dialekt, ob da ein Tier in der Box sei. Ich zögerte kurz und betrachtete für einige Sekunden das maskenlose Gesicht des grauhaarigen Fahrers, der selbst mindestens doppelt so alt sein mochte wie sein Wagen. Ich dachte an meine dritte Impfung, die ich vor einigen Wochen erhalten hatte und sagte schließlich: „Ja, einen Kater.“ Der Mann lächelte und erwiderte etwas auf Bayerisch, das ich nicht verstand. Obwohl ich selbst in München geboren war, verstand ich doch tiefes Bayerisch nur mit Mühe. Nachdem mein Kater und ich angeschnallt waren, fragte mich der gut gelaunte Mann, wo es denn hingehen solle. Ich nannte ihm die Adresse meiner Wohnung. Dann fragte er mich, wo genau das sei. Etwa auf Höhe des Petuelrings? Oder eher in der Maxvorstadt? Sein Ton spielte zwischen echter Neugierde und reinem Gefallen an der Konversation. Ich erklärte es ihm und wir fuhren los.
In Gedanken war ich immer noch bei der medizinischen Untersuchung. Die Ärztin konnte keine finale Diagnose stellen, bevor nicht die Ergebnisse aus dem Labor da waren. Mir graute bereits davor, die nächsten Monate mit Rechnungen für Spezialtherapien eingedeckt zu werden. Dann riss mich der Fahrer aus meinen Gedanken. Er schlug vor, über den Mittleren Ring zu fahren, fragte mich aber, ob es vielleicht besser wäre, einfach umzukehren und den Olympiapark von Süden her zu umfahren. Wieder lag dieser unbestimmbare Ton in seiner Stimme. Ich begann, ein wenig mit ihm zu scherzen und über den Verkehr in München zu sprechen. Normalerweise unterhielt ich mich nicht besonders gern im Taxi. Doch etwas an dem alten Mann war auf eine Weise erfrischend, die ich nicht gleich verstand. Was mir als Nächstes auffiel, war sein ruhiger und kontrollierter Fahrstil. Er hielt weder absichtlich lange an der Ampel, um etwa die Fahrt zu verlängern, noch raste er wie manch Anderer waghalsig durch die Kurven und bremste abrupt ab, wenn sich vor ihm der Verkehr staute. Er hatte mich auch bereits nach meinem Kater gefragt, jedoch ohne indiskret oder zu neugierig zu sein. Eher so, wie man als Zuschauer in einem Theater Fragen über das Stück stellt. Das gefiel mir.
Dann erzählte mir der Mann eine Geschichte. Er erzählte, wie er einmal einen Mann, der nach Neuperlach wollte, an der gleichen Praxis wie mich abgeholt hatte. Der kräftige und maskuline Herr, so beschrieb er ihn, hatte einen Kampfhund dabei. Während sich mir bei dem Gedanken, ein solches Tier einer fremden Person im Auto zu haben, noch dazu ohne Box, wie er sagte, jedes einzelne Haar aufstellte, schilderte der Fahrer die Situation mit einer solchen Leichtigkeit und Freude, als wäre er selbst gar nicht dabei gewesen. Es sei Sommer gewesen und noch dazu ungewöhnlich warm, erzählte er weiter. Die Fenster habe er darum offen gehabt. Und gerade, als er mit dem Fahrgast und dem Hund losgefahren sei, habe das Tier mit ohrenbetäubender Lautstärke angefangen zu jaulen. Der Taxifahrer imitierte das Jaulen sogleich und brachte mich damit zum Lachen. Dann sagte er, dass der Hund die ganze Fahrt über nicht damit aufgehört habe, sodass überall auf dem Weg Passanten und andere Autofahrer verwundert nach der Ursache des offenbar leidenden Tiers gesucht hätten. Bis nach Neuperlach, so betonte er noch einmal, und das sei ja nun wirklich keine kurze Strecke. Ein Schmunzeln zog abermals über mein Gesicht. Ich sah aus dem Fenster und hatte für einen Moment vergessen, dass mein Kater krank oder verletzt war und dass die nächsten Wochen oder sogar Monate schwierig werden könnten. Dann betrachtete ich das Armaturenbrett des Wagens, vor allem das altmodische Handy in der Halterung, auf dem der Fahrer offenbar die Route eingab und Kunden bestätigte. Ich fragte mich, wie man mit so einer Ausstattung noch als Fahrer in einer Großstadt bestehen konnte. Auch fragte ich mich, ob er denn bei keinem Fahrgast eine Maske trug oder nur auf Nachfrage oder wie das überhaupt möglich war bei den aktuellen Regeln zur Eindämmung der Pandemie. Dieser Mann wirkte völlig aus der Zeit gefallen. Als hätte es nie eine Pandemie gegeben und als hätte gerade er sicher nichts damit zu tun. Doch das tat der Sympathie, die ich für ihn empfand, keinen Abbruch. Ich fühlte mich wie in einem Film, der von meinem Kater und mir handelte und dessen glücklicher Verlauf von vornherein feststand. Wenngleich ich, um dieses Gefühl nicht zu verlieren, immer wieder prüfte, ob meine Maske auch richtig saß.
4
Als wir uns meiner Hausnummer und damit dem Ende der Fahrt näherten, suchte ich bereits in meinem Geldbeutel nach Kleingeld. Es erschien mir absurd, in diesem Auto und bei diesem Fahrer nach Kartenzahlung zu fragen. Ich löste meinen Gurt und den meines Katers, bezahlte den Mann mit großzügigem Trinkgeld und öffnete die Tür. Als wir uns verabschiedeten, wünschte er meinem Kater noch gute Besserung. Ich dankte ihm dafür und bedauerte beinah, aussteigen zu müssen.
Im nächsten Moment stand ich wieder am Straßenrand und sah dem davonfahrenden Wagen hinterher. Für ein paar Sekunden dachte ich noch über die Fahrt nach, als ein Radfahrer auf mich zugerast kam und „Aus dem Weg!“ schrie. Ich sprang schnell zur Seite und bemerkte, dass ich mich noch auf dem Radweg befand. Der Kater beschwerte sich lautstark über das plötzliche Schaukeln seiner Box. Ich sprach ihm noch kurz durch die Luftöffnungen einige tröstende Worte zu und eilte dann mit schnellen, wenn auch etwas unsicheren Schritten zur Haustür.
Julian Carlos Betz