Der Mann mit der Wassermelone

 

“Als er das Obstgeschäft betrat, stieg ihm eine Mischung aus heruntergekühlter Luft, Feuchtigkeit und Parfüm in die Nase.“

9.12.2021

1

Jeden Tag zur etwa selben Uhrzeit konnte er beobachten, wie ein älterer Herr mit kariertem Hemd durch den Innenhof spazierte und eine große, grüne Wassermelone in den Händen trug. Der Mann stellte dabei eine solche Selbstverständlichkeit zur Schau, dass sich niemand dafür zu interessieren schien. Doch was tat er mit den ganzen Melonen? Aß er sie? Und wenn ja, wie? Pur? Oder im Salat? War er Trinker und mixte sich Cocktails daraus? Schnitzte er Figuren aus den Schalen? Es war ein Rätsel.

2

Mit der Zeit beschäftigte ihn diese Frage so sehr, dass er kaum noch über etwas anderes nachdenken konnte. Kurz nach dem Mittagessen stellte er sich pünktlich an das Fenster zum Innenhof und wartete darauf, dass der Mann seine Wassermelone nach Hause brachte. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, hinunter zu gehen und ihn nach dem Zweck seines täglichen Einkaufs zu fragen. Nein, es musste sich um etwas Heikles, zumindest Peinliches handeln, das man nicht einfach ansprechen konnte. Einmal glaubte er, eine gewisse Traurigkeit in den Augen des Mannes schimmern zu sehen. Dann wieder hörte er klar und deutlich, wie dieser eine Melodie vor sich hin pfiff. Nur zu gerne hätte er gewusst, was hinter den stets zugezogenen Vorhängen in dessen Wohnung passierte. Seine Neugier ging soweit, dass er sich dabei ertappte, wie er in einem lockeren Gespräch mit einer Nachbarin plötzlich auf das Thema Wassermelonen zu sprechen kam. Die Nachbarin blickte ihn erst verwundert an, lachte dann jedoch auf und sagte: „Ach, Sie sind wohl auch so ein Melonen-Liebhaber wie Herr Hoffmann.“ Er glaubte sogleich, eine Antwort auf seine drängendste Frage zu erhalten. Doch er wurde enttäuscht: Die Nachbarin wechselte ohne weitere Erklärung zu anderen, weit uninteressanteren Themen, die sich um ihre gesundheitlichen Probleme, Kochrezepte und einen notorischen Falschparker in der Tiefgarage drehten. Er brach das Gespräch kurzerhand ab und entschuldigte sich damit, dass er noch etwas zu tun habe.

3

An einem Samstag kam er schließlich auf die Idee, den auf der anderen Straßenseite liegenden Obstladen aufzusuchen. Vielleicht würde er dort etwas herausfinden, dachte er sich mit einem Anflug von Eifer, für den er sich gleichzeitig ein wenig schämte. Als er das Obstgeschäft betrat, stieg ihm eine Mischung aus heruntergekühlter Luft, Feuchtigkeit und Parfüm in die Nase. Er sah sich kurz in dem ordentlichen und sauberen Geschäft um, dann sprach er direkt eine Verkäuferin an, die gerade hinter der Theke etwas aufräumte. Er fragte sie, was sie ihm empfehlen könne zu dieser Jahreszeit. Die Frau trug ein hellblaues, fast eisgraues Kopftuch, das lose auf ihrem Scheitel saß und die schwärzlichen Haare etwa bis zur Hälfte verdeckte. Als sie antwortete, fielen ihm ihre dunkelgrünen Augen auf, die wie von einer matten Melancholie gerahmt leuchteten. Sie sprach langsam und bedächtig, mit einem leichten Akzent. Sie antwortete ihm in kurzen Worten, dass die Wassermelonen zurzeit sehr gut seien. „Süß“, fügte sie noch mit dem Anflug eines kurzen Lächelns hinzu, das ihr Gesicht ein wenig lebendiger wirken ließ. Dann ertönte eine laute, männliche Stimme aus dem Hinterzimmer, die offenbar ihren Namen rief. Sie zuckte kurz zusammen, entschuldigte sich flüsternd und verschwand. Nach dieser kurzen Begegnung verließ er das Geschäft wieder, hielt draußen vor den Auslagen jedoch inne und betrat das Geschäft erneut. Nach einigen Sekunden kam auch die Frau zurück. Sie blickte auf und erschrak ein wenig, als sie ihn sah. Offenbar war sie in Gedanken versunken gewesen. Er sprach sie noch einmal höflich und vorsichtig an: „Kennen Sie einen Mann, der hier jeden Tag eine Wassermelone kauft?“ Die Direktheit seiner Frage wurde ihm gleich bewusst, sodass er rot anlief und sein Gewicht nervös von einem Bein auf das andere verlagerte. Die Frau wirkte erst unschlüssig, schien nachzudenken und sah ihn dann selbst mit einer gewissen Neugier an, der ein kaum wahrnehmbarer Anteil von Furcht beigemischt war. Sie antwortete, dass sie das nicht sagen könne, sie hätten schließlich viele Kunden und oft sei sie selbst auch gar nicht im Laden. „Natürlich, natürlich“, gab er beflissen und mit entschuldigender Gestik zurück. „Ich wollte auch gar nicht…“, setzte er noch einmal an, brach jedoch wieder ab. Er fühlte sich unwohl und sah, wie die Verkäuferin ihre Augen zusammenkniff, sodass ihr Gesicht einen regelrecht feindlichen Ausdruck annahm. Er verließ auf der Stelle das Geschäft, ohne sich zu verabschieden und kehrte mit seltsam pochendem Herzen nach Hause zurück.

4

Als er am nächsten Tag wieder am Fenster seiner Wohnung stand und zur gewohnten Zeit in den Innenhof blickte, konnte er abermals den Nachbarn entdecken. Doch diesmal hatte er keine Wassermelone bei sich. Stattdessen ging er langsamer als sonst und seine Schultern wirkten ein wenig schlaff. Als dieser gerade den Hof zur Hälfte durchquert hatte, blieb er kurz stehen. Der Mann drehte sich nach rechts um und sah leicht nach oben in seine Richtung. Jedenfalls glaubte er das, als er ihn aus dem Fenster beobachtete, und verbarg sich daher reflexhaft hinter dem Vorhang. Der Nachbar ließ den Blick jedoch weiterschweifen und setzte seinen Weg wieder fort, scheinbar ohne ihn erkannt zu haben. Als er sehen konnte, wie der Nachbar das Haus gegenüber betreten hatte, fühlte er eine unbestimmte Leere in sich, die er nicht zuordnen konnte. Er ging in die Küche, goß sich ein Glas Leitungswasser ein und trank es mit einem Zug aus. Er dachte darüber nach, wieder in den Obstladen zu gehen. Doch er fühlte sich schuldig und schwach zugleich, obwohl er nicht genau sagen konnte, warum. Dann klingelte es. Er zuckte zusammen und schlich zur Tür. Er blickte durch den Spion. „Mach schon auf, ich hab‘ meinen Schlüssel vergessen“, ertönte die Stimme seiner Freundin. Er öffnete die Tür. „Ich war einkaufen“, sagte sie laut und fröhlich und presste ihm eine große, grüne Wassermelone gegen die Brust, sodass ihm beinah die Luft wegblieb.

Julian Carlos Betz