
Die Langsamkeit des Besens
“Manchmal vermischte sich der Hausstaub auch mit dem Blütenstaub, der zu dieser Jahreszeit von draußen über den Balkon hereinkam. Dann zog ein gelber, frühlingshafter Ton in das Gemisch ein und veränderte gleichzeitig die Art, wie sich der Staub sammelte und bewegte.”
11.11.2021
1
Von dem Tag an, als mein Staubsauger nicht mehr funktionierte, sammelte sich der Staub unter meinen Möbeln und auf meinem Fußboden. Er formte sich zu kleinen, durchscheinenden Knöllchen, die sich bei Luftzug in der Wohnung stets auf den gleichen Bahnen bewegten und immer in der gleichen Ecke des Wohnzimmers eine stattliche Kolonie bildeten.
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Ich hatte ihn mit dem üblichen Druck über den Teppich geführt, da die Saugkraft des billigen Geräts nicht ausreichte, um den Staub zwischen den Teppichhaaren hervorzuholen. Mit der Zeit hatte der Handgriff zu wackeln begonnen, bis schließlich etwas im Scharnier brach, mit dem man den Staubsauger sonst zusammenklappen konnte. Ich schickte das Gerät ein – es war kaum älter als ein Jahr – und wartete nun seit mehreren Wochen auf die Antwort des Herstellers. Seitdem betrachtete ich mit erhöhter Neugier den Staub, der sich wie ein besonderer Pilz in meiner Wohnung breit machte. Wenn ich auf dem Sofa lag und las, spähte ich hinüber zum Bett, wo sich auf dem Boden in einer verunstalteten Kreisform eine Schicht kaum sichtbaren Staubs um den Bettpfosten herum zeigte. Wenn ich ins Bad ging, fand ich in den unzugänglichen Ecken dunkle, dichter wirkende Ringe aus Staub, konzentrisch verworrene Bereiche der Vernachlässigung, die ich missmutig betrachtete, bevor ich in die Dusche stieg oder während ich meine Zähne putzte.
Manchmal vermischte sich der Hausstaub auch mit dem Blütenstaub, der zu dieser Jahreszeit von draußen über den Balkon hereinkam. Dann zog ein gelber, frühlingshafter Ton in das Gemisch ein und veränderte gleichzeitig die Art, wie sich der Staub sammelte und bewegte. Er bildete dann feine, wie mit dem Lineal gezogene Linien auf dem Boden, oder der Blütenstaub nistete sich nur schüchtern in einigen größeren Knäueln ein, denen er damit eine seltsame Leichtigkeit verlieh. Wenn ich mich durch die Wohnung bewegte, kam es vor, dass ich den Staub wie eine Vorhut vor mir hertrieb, sodass dieser mich in brüchigen Wellen begleitete und bisweilen zu den Seiten hin ausbrach und sich verlor.
3
Mir schien dieser Zustand mit all dem Staub nicht bemerkenswert. Ich erkundigte mich weder beim Hersteller nach dem Verbleib des Geräts noch dachte ich daran, mir einen neuen zu kaufen. Stattdessen griff ich eines Samstagmorgens, als mir die Sonne eine weitere, scheinbar über Nacht hinzugekommene Kolonie mitten im Zimmer offenbarte, zu einem alten, zerzausten Besen. Das gute Stück stammte noch vom Vormieter und hatte so plattgedrückte Borsten, dass es erhebliche Mühe kostete, mit diesem schamhaften Relikt einer vergangenen Zeit überhaupt irgendwelche Ergebnisse zu erzielen. Anfangs schob ich die fliehenden, scheinbar endlosen Staubwolken noch durch den Raum, in der stillen, bereits zu Beginn enttäuschten Hoffnung, die Menge an Partikeln irgendwo zu einer Art Haufen schichten und anschließend entsorgen zu können. Doch anstatt diesem Ziel näherzukommen, wirbelte der Staub bloß auf, oder verfing sich in den Borsten, sodass die Knäuel auf zufällige Weise zu einem späteren Zeitpunkt an ganz ungeeigneter Stelle wieder herunterfielen und so ein geordnetes, planbares Säubern des Zimmers unmöglich machten. Dennoch gefiel es mir, mit diesem unpassenden Hilfsarbeiter eines schlecht ausgestatteten Haushalts wie dem meinen loszuziehen, die immer wieder neu sich bildenden Ansammlungen ausfindig zu machen und mit den schiefen Borsten des langsam arbeitenden Besens aufzunehmen. Nachdem ich eine Weile in geduldigen Zirkeln das Wohnzimmer durchkreuzt hatte, war das Depot im Flur, wo ich den Staub zielstrebig hinzubewegen versuchte, bereits auf eine stattliche Größe angewachsen. Somit ging ich in die Küche, um ein Kehrblech sowie einen kleineren Besen zu holen. Als ich schließlich auf den Knien vor dem Depot im Flur versuchte, mit quälend langsamen Schüben, den teils feinen, teils buschigen Staub in das Kehrblech zu befördern, fiel mir auf, dass nach jeder Kehrbewegung ein breiter, äußerst feiner Streifen auf dem Boden übrigblieb. In diesem Streifen glitzerte es, wie aus einer eben erst geöffneten Schachtel, deren vergessener Inhalt in der eigenen, unfertigen Vorstellung einen fast blendenden Schimmer erzeugt, der die eigentliche Leere des Behälters überdeckt und mit einer seltsam vibrierenden Stille versieht.
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Es gelang mir nur teilweise, den besonders feinen Staub in das Kehrblech zu zwingen, sodass ein kleiner, fröhlicher Rest zurückblieb, den ich mit einer unwilligen Geste unter das Telefonschränkchen beförderte. Ich stand auf, hielt kurz inne und bemerkte, dass mir warm geworden war. Ich griff wieder nach dem großen, alten Besen und entfernte einige übriggebliebene Fäden und Staubflechten aus dem Borstenkopf. Ich entsorgte den Inhalt des Kehrblechs in meinem Mülleimer unter der Spüle. Dann nahm ich den alten Besen und stellte ihn wieder hinter die Küchentür. Ich stellte ihn genau auf die Stelle, wo sich wie aus Tradition ein kleiner, grauer Staubfleck befand, der rund um den Besenkopf vor langer Zeit entstanden sein musste und dort, so wünschte ich mir, auch bleiben sollte.
Julian Carlos Betz