
Eis
“Sein Körper fühlte sich an, als wäre er wahllos und zerstückelt in der Umgebung verteilt, als würden dessen einzelne Atome irgendwo dort zwischen Eis und Licht blitzend nach ihm rufen.”
23.1.2022
1
Endlich hatte die Eishalle wieder geöffnet. Endlich konnten sie wieder trainieren. Jonathan knackte mehrmals mit den Fingern, bevor er die letzte E-Mail an eine Kollegin schrieb. Dann stand er von seinem Schreibtisch auf, streckte sich und setzte zum Gähnen an. Das brach er jedoch abrupt ab, als ihm sein Vater in Erinnerung kam: „Wer gähnt, arbeitet zu wenig.“ Jonathan grinste in Gedanken an ihn und fühlte sich zugleich ein wenig traurig, weil dieser erst im vorigen Jahr nach einer kurzen und überraschenden Krebs-Erkrankung verstorben war. Jonathan ging sogleich schnellen Schrittes in die Küche, um sich zwei Erdnussriegel und ein isotonisches Getränk einzupacken. Die Sporttasche stand bereits seit Wochen unnütz auf dem Küchenboden herum, weil Jonathan jeden Tag auf die Freigabe der Behörden wartete, um wieder mit den Jungs trainieren zu dürfen. Schon jetzt weiteten sich seine Nasenflügel, wenn er an die kalte, komprimierte Luft in der Halle dachte und das klackende, hypnotisierende Kratzen der Kufen auf dem Eis, die Rufe seiner Team-Kameraden und die regelmäßigen, scheppernden Kollisionen der Spieler gegen die Spielfeldbegrenzung. Seine Freundin hatte ihm gesagt, dass sie das Training nicht sehr vermisse, denn er würde sich ja doch nur verletzen. Jonathan sah das anders.
2
Es war Freitagabend und der Winter zeigte sich bereits mit fallenden Schneeflocken am Horizont. Jonathan war deshalb nicht sicher, wie lange die Eishalle geöffnet sein würde, bis wieder alle Krankenhäuser überfüllt waren und er an seinen knarzenden Schreibtischstuhl gefesselt war. In seinem von einem dunkelgrauen, fast schwarzen Vollbart verdeckten Gesicht spielten verschiedene Regungen zwischen Sorge, Bedenken und Entschlusskraft. Für einen kurzen Moment dachte er daran, mit seinem Auto wieder kehrt zu machen, weil es ja doch sinnlos war, für ein paar Wochen zu trainieren und dann wieder monatelang herumzusitzen. Doch diesmal musste es sein. Jonathan wollte heute Abend spielen, um jeden Preis. Er trat noch ein wenig mehr aufs Gas, sodass eine ältere Dame auf dem Gehsteig verwundert zur Seite blickte, als Jonathan vorüberrauschte.
3
Die Eishalle im Londoner Vorort war nicht besonders schön, nicht wirklich modern und im Grunde auch zu klein. Doch die „Falken“, wie sich das Team von Jonathan und den Übrigen nannte, machte das Beste daraus und teilte sie sich mit den Eiskunstläufern und der Gemeinde, die an Sonntagen die Halle zum Schlittschuhlaufen öffnete. Wenn er so darüber nachdachte, ärgerte es ihn ein wenig, dass sein Team, das er als Kapitän anführte, jede Saison wieder den undankbaren Freitagabend erhielt, während die Eiskunstläufer praktisch freie Wahl hatten. Und das nur, weil sie in der untersten Hockey-Liga spielten und nicht so erfolgreich waren wie die Pirouetten drehenden Konkurrenten um den besseren Trainings-Slot. Doch davon wollte er sich jetzt nicht ablenken lassen. Er schüttelte den Kopf, um sich wieder auf das bevorstehende Training zu konzentrieren und fuhr auf den kleinen Parkplatz hinter der Halle.
Als Jonathan die Umkleide betreten und sich umgezogen hatte, waren die anderen bereits auf dem Feld. Er rief ihnen vom Rand her zu, hob einen Arm und lächelte. Ein paar hoben ebenfalls die Arme und grüßten zurück. Das „Spiel“, auch wenn es nur ein Training war, schien bereits in vollem Gange. Jonathans Gesicht zeigte eine freudige Erregung, die sich aufgrund der Kälte nicht mehr löste und gleich einer kühlen, eisigen Maske in diesem besonderen Umfeld bestehen blieb. Nachdem er zu den anderen aufgeschlossen und die üblichen Aufwärmübungen absolviert hatte, wollte Jonathan das Spiel unterbrechen und erst einmal die Technik der einzelnen Spieler auf den Prüfstand stellen. Doch das Team protestierte. Jonathan war erstaunt: Für gewöhnlich galt seine Autorität als unantastbar. Nachdem er es noch einmal wiederholt hatte, begannen bereits einige, den Puck wieder hin und her zu schießen. Jonathan schwankte nun in seiner Entscheidung. Einerseits wollte er die nächsten Wochen mit einem gut durchdachten Plan angehen, vor allem weil ihr Trainer schwerkrank auf der Intensivstation lag. Doch andererseits fühlte er mit ihnen mit. Er wollte einfach nur spielen.
4
An das, was für die nächsten 90 Minuten geschah, konnte er sich anschließend kaum noch erinnern. Es war, als hätte sich plötzlich ein dunkler Schlund aufgetan, der an den Seiten von reflektierenden Kristallen gerahmt war und ihm das Gefühl gab, sich in einer Art Zeremonie zu befinden. Er warf sich härter in die Zweikämpfe als jemals zuvor und versäumte es gänzlich, seine Team-Kollegen auf taktische oder technische Fehler hinzuweisen. Er hatte seine Familie und seine Vergangenheit vollkommen vergessen, wusste nicht einmal mehr, dass er bald Vater werden würde. Einzelne Blickkontakte mit den Anderen schnitten durch seine Wahrnehmung hindurch wie Messerklingen, deren Kälte er auf seinen Wangen, aber auch in sich drin spüren konnte. Gleichzeitig glühte sein Kopf, als hätte er ihn in einer vulkanischen Quelle versenkt. Seine Beine zuckten in immer der gleichen Bewegung vor und zurück, vor und zurück, bis er schließlich das Gefühl hatte, sich nicht mehr aufrichten und stattdessen nur immer weiter von Ende zu Ende rennen zu können. Als das Training schließlich vorbei war, blieb Jonathan noch eine Weile auf den Zuschauerbänken am Rand sitzen. Er starrte mit leerem Blick auf das glänzende, von unzähligen Furchen zerkratzte Feld und wusste nicht, ob er lebte oder tot war. Sein Körper fühlte sich an, als wäre er wahllos und zerstückelt in der Umgebung verteilt, als würden dessen einzelne Atome irgendwo dort zwischen Eis und Licht blitzend nach ihm rufen. Als Jonathan schließlich aufstand und die Umkleidekabine betrat, waren bereits alle verschwunden. Ein Freund aus dem Team schrieb ihm noch eine Nachricht und fragte, ob alles mit ihm in Ordnung sei. Jonathan antwortete nicht darauf und fuhr langsam, viel langsamer als sonst nach Hause.
Julian Carlos Betz