
Fahrt durch die Nacht
“Die abrupte Beschleunigung gab ihm aus unerfindlichen Gründen Sicherheit und so schnell wie er jetzt war, glaubte er sich plötzlich unantastbar.”
2.4.2022
1
Leo wollte nur schnell seinen Vater besuchen. Es war zwischen den Jahren, ungewöhnlich warm und es regnete. Obwohl es bereits Abend war, entschied Leo, sich den Wagen von seiner Schwester Marie zu leihen und aufs Land zu fahren. Er fuhr nicht oft mit dem recht knalligen Kleinwagen, den sie einmal bei einer Lotterie gewonnen hatte. Doch er hielt sich insgeheim für einen guten Autofahrer, wie das viele, vielleicht die meisten Männer taten. „Wer braucht schon ein Auto in der Stadt“, sagte er immer, wenn das Gespräch in der Mittagspause der Kanzlei, in der er arbeitete, darauf kam. Manchmal brauchte er es aber doch, wenn er wie an diesem Tag nur schnell zu seinem Vater fahren wollte, um etwas abzuholen. Dann rief er bei Marie an, ließ den üblichen Spott über sich ergehen, weil er ja angeblich nie ein Auto brauchte, und holte es bei ihr im Süden der Stadt ab.
2
Leo hatte an diesem Abend jedoch Bedenken. Der Regen hatte in den letzten Stunden zugenommen und der Wind war so stark geworden, dass die Plastikstühle auf seinem Balkon regelrecht durch die Luft wirbelten, wenn auch nur wenige Zentimeter über dem Boden. Als ihm das bewusst wurde, saß er jedoch bereits hinter dem Steuer und rauschte durch die von wenigen Laternen erhellte Dunkelheit. Auf der Autobahn trieb der Wind in unregelmäßigen Böen die wolkigen Regenschwaden wie Peitschenschläge dicht um ihn herum und erschwerte ihm damit die Sicht. Kaum konnte er die Bremslichter des Wagens vor ihm erkennen. Doch Leo war in Gedanken bereits bei seinem Vater, wo er das lange ersehnte Mountainbike abholen wollte, das ihm dieser, nach langen Jahren der Verweigerung, endlich überlassen wollte. Immer wieder hatten sie als Familie gemeinsame Touren unternommen und immer wieder hatte Leo Andeutungen gemacht, wie gern er das zinnoberrote Rad mit den breiten Reifen fahren würde. Doch sein Vater hatte ihn immer vertröstet und in Leos Vorstellung sogar einen gewissen Genuss aus der Tatsache gezogen, dass genau dieses Rad nicht mehr hergestellt wurde, weil es sich zu schlecht verkauft hatte. „Die haben sich verkalkuliert“, grinste sein Vater, wenn sie wieder einmal darüber sprachen. „Der Rahmen ist so stabil und hochwertig, das kann ja eigentlich keiner bezahlen. Deswegen haben sie es im Grunde immer unter Wert verkauft. Klassische Fehlkalkulation.“ Mit jedem dieser Gespräche wurde Leos Begehren nach diesem außergewöhnlichen Rad größer und mit jedem Jahr kam er sich blöder dabei vor, wenn er seinen Vater darauf ansprach und wieder eine zwinkernde Abfuhr erhielt: „Nächstes Jahr vielleicht.“
3
Doch diesmal war es soweit. Vorfreude und eine glühende Entschlusskraft ließen ihn das schlechte Wetter ignorieren. Und so bemerkte er auch nicht, dass er kaum in der Lage war, die Spur zu halten, weil die Markierungen in der von Regen erstickten Dunkelheit nahezu verschwanden. Erst, als ein hinter ihm fahrender Sportwagen dicht auffuhr und ihn mit der Lichthupe von der linken Spur verscheuchte, stieg leichte Panik ihn ihm auf. Denn plötzlich befand er sich in der prekären Situation der Mittelspur, die links von risikofreudigen Rasern und rechts von dröhnenden Lastern flankiert wurde. Der Verkehr war jedoch nicht stark genug, dass die übrigen Fahrzeuge als natürliche Leitlinien gewirkt hätten. Stattdessen entstanden immer wieder lange, gähnende Lücken, gefüllt von leuchtend-blendenden Regenschwaden, in denen das Scheinwerferlicht weit entfernter Autos und LKWs anarchisch reflektiert und in Leos Augen schmerzhaft hinübergeleitet wurde. Immer wieder wurde er angehupt, weil er unachtsam und mit einem Gefühl der Ohnmacht die Markierungen halb überfuhr und so eine Kollision provozierte. Leo fing an, stark zu schwitzen. Er dachte kurz an Marie, die noch in der Tür stehend gefragt hatte, ob er bei dem Mistwetter denn wirklich fahren wolle. „Es ist doch nur ein Rad“, hatte sie abfällig, aber auch mit leichter Sorge in der Stimme gesagt. „Heute oder nie!“, war Leos trotzige Antwort gewesen. „Am Ende überlegt er es sich wieder anders.“ Maries leises, resigniertes „Musst du wissen“ klang jetzt wie eine drohende Prophezeiung in Leos Ohren und weckte laute Zweifel in ihm, ob er nicht doch noch ein oder zwei Tage hätte warten können. Doch jetzt war es zu spät. Als er an der nächsten Ausfahrt vorbeifuhr, konnte er vage erkennen, wie ein Abschleppwagen ein offensichtlich aus der Kurve gerutschtes Auto auf seine Ladefläche hinaufzog. Leo drehte die Musik lauter auf. Seine Hände waren nass von Schweiß und er versuchte jetzt seit einigen Minuten, die ihm wie Stunden vorkamen, auf die rechte Spur zu wechseln. Doch immer, wenn er vorsichtig nach rechts zog, rauschte wieder jemand heran und hupte ihn, der deutlich langsamer fuhr als die anderen, gnadenlos zurück auf die mittlere Spur. Leo spürte, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.
Er hätte die Autobahn verlassen und auf der ruhigeren Landstraße weiterfahren können. Doch der Gedanke an die kurvige, nur von matt wogenden Feldern und kahl im Dunkel schimmernden Büschen begrenzte Fahrbahn, die zwischen ihm und der silbrig glänzenden Nacht keinen Schutz mehr bot, ließ ihm noch mehr die Haare zu Berge stehen. Für einen Moment bereute er, dass er bei der letzten Gehaltsverhandlung mit seinem Chef den angebotenen Firmenwagen etwas arrogant abgelehnt hatte. „Was soll ich mit der Blechkiste“, hatte er scherzhaft gesagt. Doch jetzt wünschte er sich, ein wenig häufiger gefahren zu sein, um sich nicht ganz so hilflos und unvorbereitet vorzukommen. Als wieder jemand hinter ihm die Lichthupe betätigte und daraufhin rechts zum Überholen ansetzte, gab Leo einfach Gas. Fast hätte er dabei die Augen geschlossen. Die abrupte Beschleunigung gab ihm aus unerfindlichen Gründen Sicherheit und so schnell wie er jetzt war, glaubte er sich plötzlich unantastbar. Hinterher wusste er nicht, wie lange es gedauert hatte, bis er schließlich auf dem Seitenstreifen zum Stehen kam. Er konnte sich nur noch an die verschwommenen Zahlen auf dem Tacho erinnern, die weit über der bei diesem Wetter erlaubten Geschwindigkeit lagen. Sein Herz pochte laut, scheinbar langsam, aber so fest, dass es beinah schmerzte. Im Seitenspiegel sah er jetzt aus dem Augenwinkel die von nassen Wolken aus Regen und Wind verschleierten Fahrzeuge, die wie ein höllischer Strudel aus Licht und Blendungen vorwärtsjagten, an ihm vorüber. Er dachte an seinen Vater. Er dachte an das Mountainbike. Als er noch einmal links aus dem Fenster sah und der Regen in Strömen die Scheibe hinunterlief, entschied er sich, zu warten. Als etwa eine dreiviertel Stunde vergangen war, in der Leo an seine Schulzeit zurückdachte und ihm viele alte Erinnerungen wieder bewusst wurden, erhielt er von seinem Vater eine Sprachnachricht: „Hey Leo! Du, tut mir leid, aber ich bin heute Abend noch verabredet. Vielleicht holst du das Rad lieber morgen ab. Bis dann!“ Leo lauschte konzentriert in die Stille, als die Nachricht vorbei war. Der Regen prasselte weiter, während der Verkehr die Geräusche mit einem endlosen Dröhnen und Brummen unterlegte. Dann legte er seine Hände wieder aufs Lenkrad, startete den Motor und fuhr erst langsam, dann etwas schneller, in die rechte Spur der Autobahn ein.
4
Etwa eine halbe Stunde später war er wieder vor der Wohnung seiner Schwester angelangt. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße, ging ohne Regenschirm zu ihrem Hauseingang, warf den Autoschlüssel in ihren Briefkasten und fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Leo holte das Rad am nächsten Tag nicht ab und auch nicht am übernächsten. Er sprach nie wieder darüber.
Julian Carlos Betz