
Fleckenentferner
“Mein Wunsch ist, einfach zu verschwinden und alle Flecken dieser Welt, die existierenden wie auch die zukünftigen, dort zu lassen, wo sie sind.”
24.2.2024
1
Ein Gedanke geht mir durch den Kopf: In zehn Minuten muss ich zum Baumarkt. Nach der Arbeit, noch zum Baumarkt. Ich habe alles erledigt, denke ich, mit einer Mischung aus Unruhe und fraglichem Verlangen nach Sicherheit. Jetzt nicht den Überblick verlieren, flüstere ich mir vor: Noch ein Blick in den Kalender, die To-Do-Liste checken, zwischendurch einige prüfende Blicke aus dem hohen Fenster, in die Dunkelheit. Mir fehlt das Ticken einer Uhr, die mich zum Gehen treibt. Der Kollege ist bereits gegangen. Seine Armbanduhr klingelt pünktlich um 16:45 Uhr, wenn es Zeit ist, zur Familie heimzukehren. Sein Seufzen, grundiert von einem genervten Grummeln, als die Uhr beginnt zu piepen, nehme ich immer noch als Echo in meinen Ohren wahr. Meine Finger zupfen den Oberlippenbart zurecht, bringen ihn wieder in Unordnung, zupfen ihn wieder zurecht. Die Füße trommeln einen leisen Takt auf dem dünnen, ausgetretenen Teppichboden, während ein Mann in den Sechzigern mit tiefen Augenringen hereintritt, die Mülleimer leert und mir mit atemloser Stimme einen guten Abend wünscht. „Danke“, gebe ich laut, viel zu laut zurück, sodass mein Rhythmus gestört wird. Erneut öffne ich den Terminkalender, prüfe meine für den Folgetag anstehenden Aufgaben, wälze Getanes, Erlebtes und Fehlgeschlagenes der vergangenen Stunden durch den Kopf, Schicht um Schicht, sodass sich alles auftürmt zu einem großen, mineralisch schimmernden Berg, über den hinwegzusehen mir unmöglich erscheint. Letztlich gibt mir die Vorstellung an den drohenden Feierabendverkehr den entscheidenden Stoß, ich schließe alle Programme, packe meine Sachen und mache mich eilig auf den Weg in den nahegelegenen Baumarkt.
2
Vom Parkhaus zum Eingang des Baumarkts, oder Bautempels, wie es mir scheint, laufe ich die Rampe hinab, weiche mehreren Autos aus, bevor ich über den von den Autofahrern ignorierten Zebrastreifen ins gelobte Land der Schleifmaschinen, Plastikrohre, Schrauben, individuell verlegbaren Holzboden-Elemente, Fliesenklebstoffe, luxuriöser Wandfarben und billiger WC-Deckel gelange. Helligkeit, Weite und ein Gefühl des Zurückgelassen-Werdens erwarten mich. „Wohin führt der Weg?“, scheinen mich etliche Gangbeschilderungen, Werbetafeln und unsortiert sich kreuzende Ströme aus Menschen zu fragen. Ich versuche, mich daran zu erinnern, weshalb ich hergekommen bin. Verschiedene Gründe fallen mir ein, was in unserer Wohnung verbessert, repariert oder erneuert werden könnte. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, denke ich, dass es in Zusammenhang mit den kürzlich aufgetretenen Flecken auf unserer Waschtischkonsole steht. Braune, unförmige, langsam verblassende, sich aber doch beständig haltende Flecken auf der cremefarbenen Oberfläche des türkischen Kalksteins. Ich beginn wieder, an meinem Bart zu zupfen und laufe die Gänge mehrmals auf und ab, unschlüssig, ob ich einen Mitarbeiter ansprechen oder selbstbewusst allein auf die Suche gehen soll. Gleichzeitig beobachte ich jeden einzelnen Besucher des Marktes und bin begeistert, wie viele mir fremde Sprachen gesprochen werden. Ich verstehe kaum etwas von den vorüberfliegenden Unterhaltungen und lasse mich klangorientiert forttragen von Spekulationen über mir unbekannte Lebenshintergründe. Die Informationstheken sind verwaist, Mitarbeiter sind aus der Ferne auf hohen, Leiterwagen-ähnlichen, hydraulisch betriebenen Konstrukten zu sehen, irgendwo knapp unter der Decke, schwer beschäftigt, die höchsten Regale zu inspizieren, zu bestücken oder freizuräumen. Mein Blick bleibt fortan in den oberen Bereichen der Halle hängen, sodass ich mehrmals beinah mit anderen Einkaufenden zusammenstoße. Alles unterhalb meines Blicks verschwimmt zu einem glühenden Schatten, der die innewohnenden Dinge und Menschen erstickt, zusammenwirft und schmelzofengleich zu einer einzigen Substanz werden lässt. Vorsichtig halte ich inne und sammle meine Gedanken. Etwa 50 Meter entfernt sehe ich einen weiteren Mitarbeiter auf einer Hebebühne. Ich platziere mich strategisch klug neben der Infotheke und versuche, den Eindruck eines unzufriedenen Kunden zu erwecken. Als ich etwa fünf Minuten gewartet habe, taucht plötzlich jener Mitarbeiter mit cäsarianischer Haltung auf seiner fahrbaren Hebebühne neben mir auf. Etwa ein Meter Höhe trennen uns jetzt noch, während er seinen Kopf gnädig zu mir herabneigt und signalisiert, dass ich meine Bitte nun vortragen dürfe.
3
„Wir müssen unbedingt diesen Steinmetz bekommen“, hatte meine Frau gesagt. „Du weißt schon, er hat alle Steinarbeiten im Four Seasons gemacht.“ Es war für mich völlig einleuchtend, dass nur dieser Mann, dieser bedeutende Betrieb unsere kleine Teil-Renovierung in unserem Badezimmer vornehmen durfte. Das heißt: Eigentlich brauchten wir ja nur eine kleine Steinplatte. „60 mal 40 Zentimeter, geledert, hell am besten und mit weicher Haptik“, so meine Frau. „Das wird großartig“, beteuerte sie und ich konnte gar nicht anders, als eifrig zuzustimmen. Nachdem die Platte geliefert, eingebaut und die neue Armatur angeschlossen war, nahmen wir das erlesene Stück sogleich in Betrieb. Wenige Tage später tauchten jedoch zwei gar nicht heitere Flecken neben dem runden Aufsatzwaschbecken auf. „Das gibt es doch nicht“, hatte meine Frau dazu laut ausgerufen. „Ich dachte, der Steinmetz hat die imprägniert!“ – „Das dachte ich auch!“, entgegnete ich ebenso entrüstet und schockiert über die unzureichende Widerstandsfähigkeit des Steins. „Kalkstein ist eben empfindlich“, setzte ich daraufhin an, um dem Ganzen eine schicksalhafte Note zu geben. „Ganz sicher nicht!“, empörte sich daraufhin meine Frau. „Diese Flecken müssen weg.“ Und damit war mein Weg zum Baumarkt besiegelt.
4
Der Hohepriester auf seiner Hebebühne sieht mich immer noch nicht an und blickt stattdessen beiläufig zur Seite, während er mir seinen geröteten, von ledriger Haut überzogenen Kopf hinneigt. „Es ist Folgendes“, setze ich an und versuche, die Fakten genauestens mitzuteilen. Wie einen Tatsachenbericht trage ich dem in roten Cargo-Hosen und einer ebenso roten Funktionsjacke mit zahlreichen Taschen dastehenden, etwa 50-jährigen Mann meine Situation vor. Als ich gerade enden will mit der Frage, wo ich denn das passende Gegenmittel für mein Problem in diesem wunderbar ausstaffierten Tempel finden könne, unterbricht er mich brüsk und keifend: „Vergessen Sie’s! Das können Sie vergessen! Nie und nimmer! Die Flecken sind drin, die gehen nie wieder raus.“ Ich versuche, meine Enttäuschung zu verbergen, was mir nicht recht gelingt. Doch er fährt weiter fort: „Ich hatte das Gleiche letztens. Hat meine Frau, so blöd muss man mal sein, hat meine Frau den neuen Granitstein in der Küche ruiniert, weiß Gott, wie sie das gemacht hat. Riesige Flecken, grässlich, tief eingezogen.“ Der Mann holt kräftig Luft und plustert sich auf wie ein Blasebalg, bevor er fortfährt: „Beauftragt die, das müssen Sie sich mal vorstellen, den Steinmetz mit der Reparatur.“ Er pausiert und ich warte, was jetzt noch kommt. Dann platzt es aus ihm heraus: „300€!“, schreit er nun beinah, sodass seine Halsschlagader gefährlich anschwillt. Ein Sprühregen aus Speichel kommt mir entgegen und ich trete einen Schritt zurück. „4 Monate habe ich abgekotzt. Das hätte mein Kumpel, der macht Grabsteine, für die Hälfte gemacht. Und dann hätte ich noch einen neuen Stein bekommen!“ Die Tirade geht eine Weile so weiter, bis ich begreife, dass ich keine neuen Informationen, geschweige denn Hilfe von diesem Mann zu erwarten habe. Nun unterbreche ich den sich ereifernden Priester, der offenbar seinen Glauben verloren hat, mit den Worten: „Also nichts zu machen?“ – „Nichts zu machen“, gibt der Mann mit krebsrotem Gesicht, hervorquellenden Augen und einer wegwerfenden Geste zurück.
5
Ich frage mich, was ich tun soll. Unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurückzukehren ist keine Option. Mutig begebe ich mich deshalb auf eigene Faust auf die Suche und entdecke einige Meter in einem Regal, das offenbar Pflege- und Reinigungsprodukte für Natursteine beinhaltet. Mein ohnehin schon von der verwirrenden Angebotsvielfalt trüb gewordener Blick stumpft weiter ab, sodass ich nur noch Fragmente, Worthülsen und nahezu identisch aussehende Plastikflaschen und Kanister wahrnehmen kann. Zwischen all der Unsicherheit drängt sich noch die Frage auf, ob ich meinem Arbeitskollegen vorhin auch wirklich das Briefing geschickt hatte, bevor ich aufgebrochen war. „Ohne das Briefing kann er morgen früh nicht mit dem Projekt starten und wir hängen ohnehin schon hinterher.“ Meine Hände beginnen zu schwitzen, ich trete von einem Bein auf das andere. Etwas in mir drängt zur Aufklärung und nimmt immer mehr Raum ein, sodass ich wie von innen erdrückt werde, mit einer seltsamen schwellenden Masse. Ich spüre, wie auf meinem Gesicht heiße Flecken auftreten und sich hinter meiner Stirn ein sanftes Brummen bemerkbar macht. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Hohepriester mit seiner Hebebühne langsam am Regal auf der anderen Seite der Halle durch den langen Gang entlangfährt, mit den Händen auf dem vorderen Geländer wie der Diktator bei der Ansprache seines Volks. Ich denke an seine Worte und überlege, unseren Steinmetz anzurufen und mit der Reinigung zu beauftragen. Doch meine Frau würde davon nicht begeistert sein. „Du bist der Mann“, sagte sie immer, „du musst das Problem lösen, und zwar schnell und billig.“ Mich überkommt eine plötzliche Abscheu vor all diesen Produkten, die bis unter die Decke reichen, alle das Gleiche versprechen und doch nicht helfen. Mein Wunsch ist, einfach zu verschwinden und alle Flecken dieser Welt, die existierenden wie auch die zukünftigen, dort zu lassen, wo sie sind. Dieser Wunsch wird so stark, dass er sich ohne Übergang in eine Erkenntnis verwandelt: Ich glaube nun fest daran, dass jeder Versuch, die Flecken zu entfernen, scheitern wird. Und dass es besser ist, sich in diese Tatsache zu fügen. Die Masse in mir gibt bei diesem Gedanken langsam nach und ich fühle mich leichter und freier. „Doch wer weiß“, denke ich dann, „vielleicht gibt es ja noch ein Geheimmittel, ganz oben unter der Decke, auf dem obersten Regal, das man nur mit einer Hebebühne erreichen kann.“ Ich lache kurz auf. Dann verlasse ich den Tempel langsam und schlendernd, großzügige Segnungen nach links und rechts spendend.
Julian Carlos Betz