
Holz
“Das Stück Holz sah aus, als hätte es jemand im Wald gefunden und einfach mitgenommen, von Moos überwachsen, feucht und modrig riechend, gerade so groß, dass man es noch gut mit einer Hand greifen konnte.”
11.11.2021
1
Cornelius besaß eine kleine Schreinerwerkstatt im Keller. Er und seine Freundin Frida wohnten in der Stadt, nicht weit vom Zentrum entfernt, gleich am Rande eines Parks. Sie hatte sich schnell damit abgefunden, dass er viel Zeit in der Werkstatt verbrachte. Oft kam er erst spätabends nach oben in die kleine Wohnung, nachdem er den Abend über an verschiedenen Schreinerprojekten gearbeitet hatte. Frida war damit zufrieden, ihr Job als Krankenschwester laugte sie aus und sie konnte die Ruhe gut gebrauchen. Der Geruch jedoch, den Cornelius nach mehreren Stunden in der Werkstatt an sich hatte, war etwas, woran sie sich nie gewöhnen konnte. Eine säuerliche Mischung aus Leim, Holz und synthetischen Stoffen, die allesamt von einer Grundnote aus Schweiß getragen wurden. Wenn er sie dann im Bett vorsichtig und tastend von hinten umarmte, zog sie sich reflexhaft zusammen, freute sich aber über seine körperliche Wärme, trotz des unangenehmen Geruchs.
2
Cornelius arbeitete in der städtischen Großmarkthalle. Seine Arbeit bestand aus typischen Lagertätigkeiten wie Bestände kontrollieren, Ein- und Ausgänge überprüfen, Hilfskräfte anweisen oder hin und wieder eine Palette mit dem Gabelstapler transportieren. Es war keine besonders anstrengende Arbeit, sodass er oft abends wach lag und erst noch einige Zeit in der Werkstatt verbringen musste, um wirklich schlafen zu können. In regelmäßigen Abständen hatte er somit das ein oder andere Kunstwerk vorzuweisen. Sei es ein kleiner Hocker, mit Verzierungen und leicht geschwungener Sitzfläche, oder hölzernes Geschirr, das sie im eigenen Haushalt verwendeten oder auf diversen Internet-Plattformen zum Verkauf anboten. Frida ermutigte ihn mehrmals, eine eigene Website zu erstellen und die Gegenstände professionell zu vermarkten. Doch Cornelius lief dann nur rot an, winkte ab und grinste verlegen.
3
Eines Tages wurde Frida krank. Ihre Lunge funktionierte nicht mehr richtig und sie verbrachte oft mehrere Tage am Stück im Krankenhaus, wo sie künstlich beatmet werden musste. Cornelius hatte in dieser Zeit aufgehört, in seiner Werkstatt zu arbeiten und betrat sie für mehrere Monate überhaupt nicht. Frida ging es immer schlechter. Sie bat ihn eines Tages, sich keine Sorgen zu machen. Er fragte sie, was das bedeuten solle. Sie winkte ab und lächelte ihn dabei schwach und schelmisch an.
Nach etwa einem Jahr verstarb Frida. Cornelius war gerade bei ihr zu Besuch auf der Station gewesen und für einen kurzen Moment an ihrem Bett eingenickt, als ihr Körper aufgab. Er ließ sich von den Schwestern und Ärzten, mit denen sie vor ihrer Krankheit zusammengearbeitet hatte, über die nächsten Schritte aufklären. Er sah in aufgelöste Gesichter, die trotz der jahrelangen Erfahrung dem Anblick der bläulich angelaufenen Frida nicht standhalten konnten. Sie schickten Cornelius mit vielen Umarmungen und Tränen nach Hause. Er selbst weinte nicht, war jedoch so müde wie schon lange nicht mehr. Als er an diesem Dienstagabend die Türe zur Wohnung aufschloss, war es gerade dunkel geworden und er tastete im Wohnzimmer nach dem Lichtschalter. Als das trübe, weiche Licht langsam heller wurde, erblickte er auf dem Couchtisch ein grobes Scheit Holz. Für einen kurzen Moment erschrak er, begann leicht zu zittern und blickte sich fahrig in der leeren Wohnung um. Die Fenster waren gekippt und die dünnen Vorhänge wurden unmerklich von einer spätsommerlichen Brise bewegt. Er trat näher an den Tisch heran. Das Stück Holz sah aus, als hätte es jemand im Wald gefunden und einfach mitgenommen, von Moos überwachsen, feucht und modrig riechend, gerade so groß, dass man es noch gut mit einer Hand greifen konnte. Cornelius kniete vor dem Tisch nieder und befühlte das Holzscheit von allen Seiten. Seine Gedanken, die zuerst um die Herkunft des seltsamen Stücks gekreist waren, drängten jetzt einer anderen Frage zu, die von ihm Besitz ergriff: Was sollte daraus werden? Seine Müdigkeit sagte ihm, dass er darüber schlafen sollte. Also ging Cornelius zu Bett.
Am nächsten Morgen erwachte er nach einem traumlosen Schlaf und fühlte eine ungeheure Kraft in sich. Er rief bei seinem Vorgesetzten an und meldete sich krank. Dann ging er ins Wohnzimmer, betrachtete für einen Moment das still daliegende Stück Holz und machte sich fertig für die Werkstatt. Der Tag verging wie eine einzige Stunde, Cornelius verspürte keinen Hunger, keinen Durst und ignorierte selbst die Nachbarin, die an seinem Kellerabteil vorüberkam und ihn fragte, was er denn heute Schönes zustande bringe. Nachdem er das Holz von Moos und Flechten befreit hatte, zerteilte er es in mehrere, etwa gleich große Teile. Er sägte, schnitzte und schmirgelte unermüdlich. Zuletzt sah er eine noch unfertige, aber in seiner Vorstellung bereits formvollendete Sammlung an Figürchen vor sich liegen, die ihn an japanische Naturgeister erinnerten. In seiner Kindheit hatte er gerne bebilderte Bücher darüber gelesen, wie diese Geister und Dämonen in den Alltag eingriffen und das Los der Menschen mitentschieden. Er wusste, dass er sie noch nachbearbeiten sollte, vielleicht mit einer schützenden Lasur. Doch fürs erste verzichtete er darauf, nahm die Figuren lose und wie sie waren in seine Arme und verließ die Werkstatt mit glühendem Gesicht und über dem Hemd verteilten Sägespänen. Zurück in seiner Wohnung begann er sogleich, die Figuren sorgsam im Raum zu verteilen. Eine über dem kleinen Fernseher in der Ecke, eine in der Küche, eine auf dem Nachtkästchen neben dem Bett und eine neben Fridas Nähmaschine. Die fünfte und letzte Figur gefiel Cornelius aus irgendeinem Grunde nicht, vielleicht weil er sich in ihr wiedererkannte. Mit einem Seufzer steckte er sie in die Tasche seiner Jeans. Dann ging Cornelius mit leerem Magen zu Bett und schlief so lange wie noch nie in seinem Leben.
4
Einen Monat später war Frida bereits beerdigt und Cornelius hatte alles Notwendige getan, um den Nachlass gemeinsam mit ihren Eltern zu regeln. Seine Stelle in der Großmarkthalle hatte er gekündigt und arbeitete nun in einer Sozialwerkstatt. Jeden Abend, bevor er zu Bett ging, berührte er die Figuren, einzeln und mit der Spitze eines Fingers, als wollte er sich von ihnen verabschieden. Die fünfte Figur, die keinen Platz in der Wohnung gefunden hatte, trug er fortan immer bei sich.
Julian Carlos Betz