Jacky

 

“Als sie sich zum Abschied umarmten, spürte Jacky ihren eigenen Körper in seinen Armen nahezu verschwinden und entspannte sich für einen kurzen Moment vollkommen.”

7.5.2022

1

Eigentlich hieß sie Jacqueline, doch ihre Freunde nannten sie Jacky.

Sie konnte sich noch gut an den Tag in ihrer Schulzeit erinnern, als sie erkannt hatte, dass sie ihren Namen nicht mochte. Es war in der 7. Klasse und Jacqueline war gerade mit ihren Freundinnen in den kleinen städtischen Park gegangen, um zusammen für die nächste Biologie-Prüfung zu lernen. Irgendwann hatte ihre beste Freundin dann gesagt: „Jacqueline klingt eigentlich total französisch oder? Ist deine Oma aus Frankreich oder so?“ Daraufhin hatte Jacqueline erwidert, dass ihr eigentlicher Name Jacky sei und dass ihre Mutter sie nur deshalb Jacqueline genannt hatte, weil sie in alles Französische vernarrt war. „Aber eigentlich heiße ich Jacky“, waren die genauen Worte, die bis heute die Grundlage ihrer Identität bildeten und seitdem nicht mehr infrage gestellt worden waren. 

2

Jacky hatte eine zähe Figur. Das sagte sie selbst. Sie hasste es, wenn man sie als zierlich, zerbrechlich oder gar zart beschrieb. Ihre Haare, lang und blond wie getrocknetes Stroh, trug sie meist offen. Ihr Gesicht zeigte einige strenge Kanten, die von ihrer energischen Art zu sprechen und mit den sehnigen Händen zu gestikulieren noch verstärkt wurden. 

 

3

An diesem Abend war Jacky auf einem Geburtstag eingeladen. Ihr Freund saß zuhause und arbeitete. Beim Verlassen der Wohnung hatte er ihr noch hinterhergerufen, dass sie nicht so viel trinken solle. Daraufhin hatte Jacky wie aus Protest noch schnell nach dem Kasten Bier auf dem Boden im Flur gegriffen und sich ein Wegbier mitgenommen. Als sie die Tram bestieg und unter ihrer Maske gelegentlich an ihrem Bier nippte, dachte sie an ihren Nebenjob bei der Kirche. An die Jugendlichen, für die sie dort Freizeiten organisierte und an den Kirchenvorstand, der aus ihrer Sicht nur aus glattgebügelten Weicheiern und selbsterklärten Beschützerinnen der „jungen Seele“ bestand. Sie verzog das Gesicht. Wenn sie Ausflüge mit ihrer Gruppe unternahm und hörte, wie die unschuldigen Seelen über Sex und Drogen sprachen, fühlte sie sich zu diesem Abscheu gegenüber ihren Vorgesetzten berechtigt. Denn nichts war ihr so zuwider wie Unschuld. Darauf nahm sie noch einen weiteren Schluck und sah durch das Fenster der Trambahn, wie ein paar Schulkinder an der Haltestelle sich schubsten und auf die stark befahrene Straße zu fallen drohten. Sie beobachtete das Treiben mit einer gewissen Befriedigung und feuerte sie insgeheim sogar an. Doch sie hoffte auch, dass sie klug genug waren, sich nicht überfahren zu lassen.

In der Bar, auf dem Geburtstag, traf sie Adrian. Adrian arbeitete ebenfalls in der Kirche und hatte ähnliche Ansichten wie sie. Wenn sie sich darüber unterhielten, wie der Vorstand wieder irgendeine Aktivität gestrichen hatte, weil sie angeblich unpassend und schädlich für die jungen Menschen sei, fand sich Jacky jedoch unfreiwillig in der Rolle der Opposition wieder, die der missmutig und wortkarg vorgetragenen Kritik von Adrian etwas entgegenzusetzen versuchte. „Sie geben sich ja Mühe“, sagte sie dann, oder: „Du musst es aus ihrer, wenn auch beschränkten Sicht betrachten.“ Jacky kam sich falsch und verlogen vor, wenn sie das sagte, doch sie konnte nicht anders. An diesem Abend hatte Jacky aus irgendeinem Grund jedoch nicht die Kraft, Adrian zu widersprechen. Sei es, weil ihr Freund sie kaum noch beachtete und sie seit Wochen nicht mehr miteinander geschlafen hatten, oder weil ihre Ausbildung als Erzieherin aufgrund der herrschenden Pandemie so gut wie gar nicht voranging. Jedenfalls bemerkte sie recht schnell, wie ihre Umgebung immer verschwommener wurde und sie nicht mehr sagen konnte, das wievielte Bier sie jetzt in Händen hielt. Sie versuchte, Adrians Tiraden gegen die Verantwortlichen in ihrer Kirchengemeinde zu folgen, doch sie lachte an den unpassendsten Stellen und war dabei so laut, dass ihre Stimme selbst die dröhnende Musik übertönte und ihr genervte Blicke aus allen Richtungen zuflogen. Als sie irgendwann anfing, an Adrians Schulter herumzufingern und dabei mit halbgeschlossenen Lidern in die anonyme Menge grinste, trat eine Freundin an sie heran und versuchte unauffällig, ihr das Bier wegzunehmen.

„Hey! Wie läuft es denn mit deiner Ausbildung, erzähl mal“, fragte die Freundin. Jacky bemerkte sehr wohl, wie sie ihr die Flasche wegnahm, ließ es aber geschehen. Sie überlegte, was sie antworten sollte. „Einfach großartig!“, platzte es aus ihr heraus. Ihre Stimme überschlug sich dabei und da sie schon etwas lallte, zog ihre Freundin den Kopf irritiert zurück und warf einen raschen, unsicheren Blick zu Adrian hinüber. Als Jacky diesem Blick folgte, konnte sie erkennen, dass Adrian mit glasigen Augen steif wie eine Kerze dastand, sich aber gleichzeitig unauffällig an einen Türrahmen lehnte, wohl um seinen Zustand zu verbergen. Sie fühlte sich in diesem Moment unendlich mit ihm verbunden und wollte ihm schon vorschlagen, die Bar zu verlassen und bei ihm zu Hause noch ein paar Schnäpse zu kippen. Dann wurde ihr übel. Sie sah ihre Freundin an, die offenbar eine klare Meinung dazu hatte, wie es ihr ging und sie mitleidig tätschelte. Jacky nahm sich noch einmal kurz zusammen, holte tief Luft und prustete dann los: „Ach, ihr könnt mich alle mal!“, wobei sie jede zweite Silbe verschluckte und damit nur eine Mischung aus amüsierten und verständnislosen Blicken erntete.

Das nächste, woran sie sich erinnern konnte, war eine schier endlos lange, gerade Straße, die sie mit Adrian gemeinsam entlang wankte. Sie hatten sich ineinander gehakt und versuchten so, ihr gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie wusste, dass es schon sehr kalt war und dass sie eigentlich frieren müsste, weil sie aus irgendeinem Grund keine Jacke trug. Doch die Temperatur kümmerte sie nicht. Hin und wieder warf sie einen grinsenden, ein wenig verstohlenen Blick von der Seite auf Adrian, der scheinbar alles daransetzte, nicht umzufallen. Sein quadratischer, mit kurzgeschorenen Haaren etwas martialisch wirkender Kopf saß beinah ohne Hals auf seinen Schultern und wirkte wie ein Holzscheit, den man in eine Zwinge geschraubt hatte. Jacky dachte sich: Er weiß auch nicht, was er tut. Aber er gibt sich Mühe. Dann griff sie mit einer Hand energisch unter seinen Mantel und presste sie an seine Hüfte, sodass sie das weiche Polster seines fülligen Körpers spüren konnte. Adrian fing an zu blinzeln und schien sogar etwas zu erröten. Dann begann Jacky, ihre Fingerspitzen in seine Seite zu drücken, als würde sie eine bestimmte Reaktion von ihm erwarten. Doch Adrian hielt den Kopf weiter steif geradeaus gerichtet und gab nur einige unverständliche, mürrische Laute von sich. Jacky verlor das Interesse und spürte plötzlich wieder Übelkeit in sich aufsteigen. Als sie die nächste Straßenecke erreicht hatten, löste sie sich abrupt von Adrians Seite und erbrach sich an der nächsten Hauswand. Adrian schnaufte hörbar im Hintergrund und hatte sichtlich Schwierigkeiten, aufrecht stehen zu bleiben. Als Jacky sich wieder gefasst und mit dem Ärmel ihrer dünnen Strickjacke über den feuchten Mund gewischt hatte, setzte sie ihren Weg fort. Erst nach ein paar Metern drehte sie sich schwankend zu Adrian um und rief: „Na los! Beweg dich!“

 

4

Als sie am nächsten Morgen erwachte, fand sie sich in einem fremden Bett wieder, dessen Laken seltsam zusammengeknüllt in einer Ecke der Matratze lagen. Als sie den dunklen Raum mit den Augen absuchte, entdeckte sie links von sich auf dem Boden den auf dem Rücken liegenden und halb entkleideten Adrian. Sie selbst war noch vollständig angezogen, sodass sie plötzlich von einer Welle des Ekels erfasst wurde, die sie angesichts des beißenden Geruchs von Schweiß und Erbrochenem überkam. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass dort auf dem Boden wirklich Adrian lag, rollte sie sich noch einmal zur Seite und schlief fast sofort wieder ein. 

 

5

Einige Monate später traf sie Adrian wieder auf der Straße. Es war bereits Frühling und die Sonne ließ ihr mittlerweile kurz geschnittenes Haar glänzen. Sie hatte ihren Job bei der Kirche aufgegeben und war bei ihrem Freund ausgezogen. Ihre Ausbildung ging noch immer langsam voran. Sie lebte jetzt fast nur noch von ihren Ersparnissen und schlief vorübergehend in der Wohnung ihrer Schwester auf dem Sofa. Doch sie hatte sich bei einem lokalen Schwimmverein angemeldet und zog jetzt fünf Mal pro Woche ihre Bahnen in einem nahegelegenen Hallenbad. Adrian lächelte sie mit verkniffenem Gesicht an. Er hatte sich kaum verändert, schien aber etwas dünner geworden zu sein. Sie unterhielten sich kurz darüber, was sie den Winter über noch so erlebt hatten. Doch Jackys Bedürfnis, sich mit Adrian zu unterhalten, war nahezu verschwunden. Seine Anwesenheit störte sie jetzt regelrecht. Sie glaubte, diese Erkenntnis auch in seinem Gesicht lesen zu können. Als sie sich zum Abschied umarmten, spürte Jacky ihren eigenen Körper in seinen Armen nahezu verschwinden und entspannte sich für einen kurzen Moment vollkommen. Dann lösten sie sich wieder voneinander und gingen getrennte Wege. Jacky freute sich auf den Frühling.

Julian Carlos Betz